Feindbilder - warum wir sie "brauchen" und warum sie so gefährlich sind...

29.12.2015 07:00

Vorwort

In diesem Artikel wird ein menschliches Ur-Bedürfnis beschrieben, dass in uns allen wirksam ist - ob wir wollen oder nicht: das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Der Begriff "Gruppe" ist hier nicht eingeschränkt auf eine real existierende Ansammlung von Menschen an einem topografisch definierten Ort wie z.B. ein Haus, ein Platz oder eine Straße.

In unserer virtuell vernetzten Welt gibt es "Gruppen", die sich allein durch die Art der Vernetzung im Internet definieren: in sozialen Netzwerken wie Facebook ist man Teil beliebig vieler Gruppen, auch "Freunde" kann man haben (die man zum größten Teil niemals real zu Gesicht bekommt). Wenn jemand, der völlig allein und ansonsten unabhängig lebt, von sich sagt: "ich bin ein Twitterer", begreift er sich automatisch als Teil einer Gruppe.

Durch offen sichtbare Followerzahlen, Likes und Favs wird ein sozialer Status hergestellt, dem sich die Teilnehmer schwer oder gar nicht entziehen können. Neue Follower, zumals wenn es sich um sozial bereits anerkannte Personen handelt, erzeugen Freude. Ausbleibende Favs und Retweets führen zu Gefühlen von Unwohlsein bis hin zu tiefer Enttäuschung. Hier wird mit sozialen Bedürfnissen operiert, die noch aus der Zeit unserer Höhlen-Vorfahren stammen, und die über Gefühlszentren wirken, die dem Verstand nur begrenzt zugänglich sind...

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Kennen Sie das Musical "West Side Story" von Leonard Bernstein? Zwei Jugendgangs unterschiedlicher "ethnischer" Herkunft bekriegen sich bis aufs Blut. Der gemeinsame Feind schweißt die Mitglieder jeweils einer Gruppe zusammen. Ein Wir-Gefühl entsteht, ein Gefühl, besser zu sein als die anderen. Der Feind muss bekämpft, vertrieben, am besten vernichtet werden.

In diesem Artikel beschrieb ich bereits die Feindbild-Psychologie, die sich hinter der oftmals irrationalen, hysterischen Salzstreuerei im Winter verbirgt...

Dazugehören ist wichtig, die Angst vor Strafe steckt tief in uns. - Wer nicht dazugehört, ist verloren. Wer dazugehört, fühlt sich sicher und gewertschätzt. Der kleine "Anybodys" im oben genannten Musical versucht besessen und verzweifelt, in die Gang aufgenommen zu werden.

Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist ein menschliches Grundbedürfnis. Dieses Bedürfnis ist evolutionsbiologisch begründet - ohne den Schutz einer Gruppe hatte das einzelne Individuum in der feindlichen Umwelt unserer Vorfahren keine Überlebenschance...

In der modernen Psychologie findet man es abgebildet z.B. in der "Maslow'schen Bedürfnispyramide". Die unteren Bedürfnisse sind die wichtigsten, erst wenn sie erfüllt sind, kommen höhere dazu. Gruppenzugehörigkeit kommt noch vor dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung oder Selbstlosigkeit bzw. Hilfsbereitschaft!

Auf unserer "Klötzchenpyramide" ist das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit etwa in der Mitte zu finden - stellen Sie sich vor, ein Klötzchen herauszunehmen. Was würde wohl mit den "höherwertigen" Bedürfnissen wie Selbstverwirklichung und Hilfsbereitschaft passieren...

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Eine Gruppe sucht sich identitätsstiftende Merkmale: Aussehen, Kleidung, Haartracht, Standessymbole, Sprache. Denken Sie an Fans einer Fußballmannschaft. Wehe dem, der am falschen Ort den falschen Schal trägt...

Menschliche Gesellschaften werden - das ist erschreckend - weniger durch gemeinsame Werte, sondern durch Feindbilder zusammengehalten. Bis zur Wende bzw. Wiedervereinigung Deutschlands funktionierten die Feindbilder, denn sie waren ganz eindeutig im jeweiligen gegnerischen Lager zu finden: im "Westen" oder im Kommunismus. Der "Klassenfeind" war eindeutig definiert...

Irrational, nicht rational ist menschliches Denken, Fühlen und Handeln. Alle Herrschenden dieser Welt wissen es: wenn ich meine Anhänger, mein Volk auf äußere Feinde einschwöre, dann hält es zusammen und ist gut regierbar. Auf "Werte" wie Menschlichkeit und Toleranz lässt sich ein Volk nicht einschwören!

Wir haben es noch nicht begriffen. Unser archaisches Weltbild sucht sich archaische Feindbilder. Entweder "böse" Tiere, wie Wolf oder Adler, die unsere Vorfahren als vermeintliche Nahrungskonkurrenten ausrotteten (seit einigen Jahren erlebt dieses anachronistische Denken in Form der Kormoran-Bekämpfung oder jetzt in der Wolfs-Feindlichkeit eine Rennaissance), oder eben "fremde" und vemeintlich "bedrohliche" Menschengruppen wie z.B. Flüchtlinge oder Muslime.

Die "Pegida"-Demonstrationen haben eine Eigendynamik: gemeinsam gehen, gemeinsam schweigen, einen gemeinsamen "Feind" im Sinn, und: sich unverstanden fühlen von den eigenen Regierenden - das gibt dem ganzen zudem einen revolutionären Anstrich, der es moralisch aufwertet.

Wir haben es noch nicht begriffen: die wahren Bedrohungen unserer Zeit sind Klimakatastrophe, Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion und die digitale Totalüberwachung! Bedrohungen, die jederzeit zu einem Niedergang des demokratischen Gemeinwesens führen können!

Doch diese Bedrohungen sind zu abstrakt. Sie passen nicht in unsere evolutionsbiologisch "beschränkte" Vorstellungswelt. _________________________________________________________________________________________

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