Muss Deutschland auf die Couch? Eine Ermunterung zur Selbstreflexion

09.03.2016 07:42

Seit ich vor genau zwei Jahren diese Webseite und wenige Wochen später auch meinen Twitter-Account ins Leben rief, hat sich in Deutschland eine alarmierende Entwicklung vollzogen. Das anfangs als ideologische Verirrung einer kleinen Bevölkerungsgruppe belächelte PEGIDA-Phänomen hat sich im Osten fest etabliert, immer mehr Flüchtlingsheime brennen, Lokalpolitiker flohen vor rechten Drohungen aus ihren Ämtern.

Politiker unserer etablierten Volksparteien scheitern reihenweise damit, dem Phänomen der Extremisierung der Gesellschaft beizukommen; ihre Versuche reichen von Anbiederung ("mit den Leuten über ihre Sorgen reden") über hilflose Appelle ("Folgen Sie denen nicht!"), Übernahme des katastrophisierenden Sprachgebrauchs der Rechten  ("Flüchtlingsschwemme, -Tsunami, -Lawine" u.ä.) bis hin zu Kulturkampf-ähnlichen Forderungen, wie die der Schleswig-Holsteinischen CDU nach einem Schweinefleisch-Zwang für öffentliche Kantinen. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz liefert uns ein frappierendes Beispiel von sprachlichem Zynismus: mit der Aussage "Ich würde auch nach Europa durchströmen wollen" macht er Menschen einerseits zu einer leblosen physikalischen Masse ("durchströmen"), unterstellt ihnen aber bewussten Handlungsmotivation ("wollen"). 

Der Rücktritt des Bürgermeisters von Tröglitz vor einem Jahr und anderer Lokalpolitiker im Osten nach rechten Drohungen hatte katastrophale Folgen: danach erstarkte die Rechte noch mehr, die Brandstiftungen an Flüchtlingsheimen stiegen explosionsartig an, das Verhalten rechter Hasser wurde immer dreister. Im sächsichen Clausnitz stellte sich ein hasserfüllter Mob einem Bus mit ankommenden Flüchtlingen in den Weg und bedrohte sie. Inzwischen vergeht fast kein Tag ohne Meldungen über Brandstiftungen an geplanten oder bereits bewohnten Flüchtlingsheimen!

Aktuell sorgt der Fall eines dunkelhäutigen katholischen Priesters aus dem Kongo für Aufsehen, der nach Morddrohungen aus seiner Gemeinde bei München floh. - Bei allem Verständnis für die Ängste von Politikern und im gesellschaftlichen Leben stehenden Menschen muss man ganz klar sagen:

Dieses Fluchtverhalten belohnt und bestärkt Nazis, Extremisten und Hetzer! - Es gehört zu den Grundlagen der Lern- und Verhaltenspsychologie: ein Verhalten, das erfolgreich ist, wird belohnt. Wenn Politiker sich erpressen lassen und aus ihren Ämtern fliehen, haben die Demokratiefeinde gewonnen und werden immer mehr Nachahmer finden. Und dies bestätigt sich in diesen Tagen und Wochen aufs Allerschlimmste!

Unser Leben scheint inzwischen von Angst und Hass beherrscht. Die Hasser arbeiten mit den Ängsten ihrer Mitmenschen und jagen sie entweder in die Flucht oder ziehen sie auf ihre Seite. Muss Deutschland jetzt auf die Couch? Ich sage: nein. Ein wenig Lernpsychologie und Kenntnisse der in der menschlichen Kommunikation allgegenwärtigen "emotionalen Erpressung" würden ausreichen. Denn die rechte Propaganda von Demagogen wie Festerling, Bachmann, Petry und Co. arbeitet genau nach diesem Prinzip.

Was ist emotionale Erpressung?

Emotionale Erpressung ist ein Phänomen, das in unserem Leben allgegenwärtig ist und schon früh in der Eltern-Kind-Beziehung anfängt. Wenn ein dreijähriges Kind seine Mutter als "böse Mama" beschimpft, weil es kein Eis bekommt, hat dieses Kind bereits gelernt, mit Schuldgefühlen zu manipulieren.  Wenn eine Mutter ihrem achtjährigen Sohn vorhält, wie brav der Nachbarsjunge immer seine Hausaufgaben macht und dass dieser später viel erfolgreicher sein wird als er selbst, droht sie ihrem Kind mit Verlust des Selbstwertgefühls.

Eine ängstliche Frau, die ihren Mann bittet, eine große Spinne aus dem Badezimmer zu entfernen ("Du weißt doch, wie sehr ich mich vor Spinnen fürchte"), macht diesen verantwortlich für ihr seelisches Wohlbefinden. Auch dies ist eine Drohung mit Schuldgefühlen. - Besonders drastisch wird emotionale Erpressung, wenn sie dazu dient, existentielle Ängste wie Verlustangst oder Angst um das eigene Leben hervorzurufen: "Du bekommst die Kinder nie!" droht der Ehepartner im Scheidungskrieg. - "Wenn du mich verlässt, bringe ich mich um!" - auf diese Weise werden viele Partner daran gehindert, sich aus einer unglücklichen Beziehung zu lösen.

Sehr wirkungsvoll ist emotionale Erpressung in unserer kapitalistischen Gesellschaft, wenn sie mit materiellem Verlust droht. Das ist auch einer der Hauptgründe, weshalb das übertriebene Salzstreuen im Winterdienst so schwer auszumerzen ist...

Allein die imaginierte Bedrohung durch Regressforderungen eines Gestürzten führt zu geradezu irrationalen Handlungen wie Salzstreuen mitten in der Nacht...

Wer emotionale Erpressung nicht erkennt, ist ihr schutzlos ausgeliefert. Man fühlt sich wie in einer Nebelsuppe aus unangenehmen Gefühlen, in der man nichts mehr klar erkennen kann. - Und unser Alltag ist voll davon: die Werbung droht mit Verlust des Selbstwertgefühls, indem sie uns als "blöd" bezeichnet, wenn wir dieses oder jenes Produkt nicht sofort kaufen. Die Versicherungswirtschaft schürt bewusst existenzielle Ängste und verkauft uns so größtenteils überflüssige Versicherungen.

Mit welcher Art von Erpressung arbeiten Demagogen?

Demagogen schicken ihre Anhänger in eine Art Kneipp-Wechselbad von Gefühlen. Eine demagogische Rede fängt meist mit Schmeicheleien an, z.B. über die wunderschöne Stadt, in der man sich gerade befindet. Durch Rituale wie z.B. das Anzünden von Fackeln oder das Absingen von Liedzeilen oder mit Sprechchören  wird ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt. Die Gemeinschaft aber ist besonders empfänglich für Feindbilder. Durch das Abgrenzen der eigenen Gruppe von vermeintlichen Feinden definiert sich die Gruppe. Es gibt zwei wesentliche Arten von Feindbildern.

1. Feindbild: der mächtige Feind

Feindbilder werden geschickt mit emotionaler Erpressung oder Bedrohungs-Szenarien verknüpft. Den regierenden Politikern wird z.B. unterstellt, das Volk zu belügen. "Sie belügen und betrügen euch" ist ein Angriff auf das Selbstwertgefühl der Zuhörer. Das Gefühl, belogen zu werden wird immer als Bedrohung des Selbstwertes empfunden. Gleichzeitig wird den Zuhörern suggeriert, diesen Politikern machtlos ausgeliefert zu sein. Das greift das Ur-Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung an...

Die eigene Regierung als Feind zu betrachten, erzeugt große Ohnmachtsgefühle. Das ist von den Demagogen gewollt; es bereitet auf die zweite Stufe des Feindbild-Denkens vor:

2. Feindbild: der schwache Feind

Die Gefühle der Ohnmacht, die das Bild des "mächtigen Feindes" hervorruft, brauchen ein Ventil. Der Mensch hat das Bedürfnis, wieder selbst Macht und Kontrolle zu erlangen. Wer kennt z.B. nicht die Metapher vom gemobbten und unterdrückten Angestellten, der seinen Frust zuhause an seinen Kindern, seiner Frau oder dem Hund auslässt....

Ein Feindbild, was vom Wesen her eigentlich schwach ist, auf das aber viele Negativ-Eigenschaften projiziert werden können, sind Flüchtlinge. Sie sind de facto schutzlos, heimatlos, ohne Besitz, oft eingeschüchtert und traumatisiert, ohne gesellschaftliche Macht, der hiesigen Sprache nicht mächtig, haben kein Wahlrecht und dürfen sich im Land nicht frei bewegen. Sie dürfen nicht arbeiten und haben kein soziales Netzwerk, das sie in Krisensituationen auffängt. Flüchtlinge sind in der gesellschaftlichen Macht-Hierarchie auf der untersten Position.

Natürlich sagen Demagogen nicht: "Tobt euren durch uns geschürtenSelbstwert-Frust an Flüchtlingen aus, denn gegenüber Schwachen fühlt man sich am schnellsten wieder stark!" - Das wäre zwar rational korrekt, hätte aber nicht den Effekt, Emotionen zu schüren, die wiederum die Anhänger an die Demagogen binden sollen. Nein - Demagogen wollen ihre Anhänger nicht aufklären, sondern dumm und stark emotionalisiert halten. Deshalb schüren sie das Feinbild über aversive Emotionen wie Angst, Neid, Ärger bis hin zu Hass. Das tun sie mit Szenarien wie:

"Flüchtlinge sind Invasoren"

"Flüchtlinge zerstören eure Kultur / islamisieren das Abendland"

"Flüchtlinge nehmen euch euren Wohlstand weg / bekommen mehr als ihr"

"Flüchtlinge sind gesetzlos und gewalttätig"

Solche starren Negativ-Attribuierungen schaffen die Grundlage für ein feindseliges Verhalten ohne Schuldgefühle. Wenn der "Feind" so gefährlich ist, darf ich ihn ungehemmt bekämpfen: Zusammenrottungen, Fremdenfeindliche Demonstrationen, Zulauf zu rechtsextremistischen Parteien wie der AfD, Bedrohung von Politikern, Anzünden von Asylunterkünften, Blockade von Flüchtlingsbussen - das alles ist dann ein sozial akzeptiertes Verhalten. Ich erklärte bereits in meinem Artikel über die Milgram-Experimente, wie leicht es ist, Menschen zu gesetzeswidrigen Handlungen zu bewegen, wenn diese Handlungen durch "Vorbilder" ausgeübt und gefördert werden.

Demagogen fördern diese Entwicklung ganz gezielt und bewusst: sie machen sich ihre Anhängerschaft über starke Emotionen und emotionale Erpressung gefügig und können sich selbst auf diese Weise mit Leichtigkeit als "Retter" inszenieren. Und so fungieren sie als "Vorbilder", obwohl sie rational betrachtet keine sind...

Man sieht also ganz deutlich: wir Deutsche sind nicht verrückt und müssen auch nicht auf die Couch, aber ein wenig differenzierte Selbstreflexion und gesellschaftspsychologische Bildung täte uns sicher allen gut - auch unseren etablierten Politikern, die allzu oft den Demagogen auf den Leim gehen und so unfreiwillig (wie Sigmar Gabriel mit seinem Fauxpas von der "eigenen Bevölkerung" oder Andrea Nahles mit abfälligen Äußerungen über die  "niedrigschwellige Gelegenheit", die Flüchtlinge in die Nähe von Dieben rückt) selbst zu geistigen Brandstiftern werden.

Lieber mal den Mund halten, liebe Politiker und ein wenig Selbstbildung betreiben...

(Alle Zeichnungen: Brigitte Dubbick)

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