Die Gottgleichen und die Verdammten - dichotomes Denken im öffentlichen Diskurs

16.03.2016 07:24

"Nur Menschen wie Frauke Petry können Deutschland retten".  - "Petry ist ein Segen für dieses Land!" - solche Sätze schleudern wütende AfD-Anhänger dem ehemaligen Religionslehrer von Petry entgegen, der sich öffentlich von ihr wegen mangelnder Nächstenliebe und ihrer amoralischen Haltung in der Flüchtlingsfrage distanzierte.  - "Merkel ist unser Untergang!" - auch solche Sätze begegnen uns oft im öffentlichen politischen Diskurs. Die Extrempole von Idealisierung und Entwertung, Verherrlichung und Verdammung greifen im kollektiven Denken um sich.

Sind die Menschen nicht mehr zu differenziertem Denken in der Lage? Wir wissen doch eigentlich alle: das Leben ist nicht schwarz oder weiß, es hat viele Schattierungen: Menschen, die wir jahrelang zu kennen meinen, können uns mitunter enttäuschen oder auch positiv überraschen. Und alles kann man aus verschiedenen Blickrichtungen betrachten. Doch nun ist eine befremdliche Tendenz in unserer Gesellschaft festzustellen...

Das kollektive Alles-oder-Nichts-Denken

"Alles, was ich anpacke, geht schief!" - Sätze wie diese höre ich als Psychotherapeutin sehr oft. Dichotomes Denken, auch "Alles-oder-Nichts-Denken" genannt, kennzeichnet viele psychische Störungen. - Zwar neigen Menschen im allgemeinen dazu, in Schubladen wie "gut" oder "böse" bzw. "richtig" oder "falsch" zu denken. Das erleichtert uns das Zurechtfinden in unserem komplizierten Alltag, der von Reizüberflutung und ständigen Entscheidungen geprägt ist. Wenn wir aber Zeit zum Nachdenken haben, sind wir sehr wohl in der Lage, sowohl die Vorteile, als auch die Nachteile derselben Person oder Sache, die berühmten zwei Seiten der Medaille zu erkennen.

Bei Neurosen oder Persönlichkeitsstörungen ist das dichotome Denken aber extrem ausgeprägt und der Betroffene kann sich nur schwer oder gar nicht davon distanzieren. Wenn ein Patient zum Therapeuten sagt: "Sie sind der einzige Mensch, der mich versteht", wird man als Therapeut hellhörig. Diese Idealisierung kann bei extremen Persönlichkeiten abrupt in Verachtung bis Hass umschlagen. Die Therapie wird möglicherweise kurz danach abgebrochen und der Therapeut im nächstbesten Internet-Bewertungsportal in Grund und Boden beschimpft.

Dichotome Denk- und Verhaltensmuster kennen wir also gut bei psychiatrischen Patienten. - Was ist aber, wenn aber ganze Bevölkerungsgruppen in ein "Schwarz-Weiß-Denken" verfallen und ihr Denkhorizont sich immer mehr auf wenige Extreme einzuengen scheint? Wenn Politiker - die anders als früher Kaiser und Könige nicht durch "Gottes Gnaden" (bzw. adlige Herkunft), sondern durch definierte demokratische Prozesse wie z.B. freie Wahlen legitimiert sind - wenn also solche Personen im 21.  Jahrhundert als "Retter" und "Segen für Deutschland" einerseits oder als "Schande" bzw. "Untergang" andererseits tituliert werden - und viele Menschen überhaupt keine Differenzierung mehr kennen?

Dabei fällt auf, dass meist Menschen, die bereits an der Macht sind, Objekt der Entwertung (Merkel = "Schande für Deutschland") sind, während solche, die bis jetzt noch hauptsächlich Propaganda bis hin zur Demagogie betrieben haben, Objekt der Verherrlichung / Idealisierung sind.

Hier greift offenbar das Feindbild-Denken, welches ganz gezielt von Demagogen gefördert wird. Ich habe darüber in diesem Artikel berichtet.

Demagogen schüren gezielt Feindbilder, indem sie zuerst das Selbstwertgefühl ihrer Anhänger destabilisieren und ihnen suggerieren, dass sie z.B. von ihren Regierenden betrogen werden...

... um sich selbst dann als Retter zu inszenieren. Sie suggerieren ihren Anhängern, dass sie deren Ängste, Nöte und Sorgen verstehen und ernst nehmen. Sie "füttern" ihre Anhänger mit vorgeblicher Empathie...

dabei geht es ihnen vor allem darum, die Menschen emotional an sich zu binden, um sie dann umso besser manipulieren zu können.

Sodann werden Feindbilder installiert. Ein Feindbild, was vom Wesen her eigentlich schwach ist, auf das aber viele Negativ-Eigenschaften projiziert werden können, sind Flüchtlinge. Sie sind de facto schutzlos, heimatlos, ohne Besitz, oft eingeschüchtert und traumatisiert, ohne gesellschaftliche Macht, der hiesigen Sprache nicht mächtig, haben kein Wahlrecht und dürfen sich im Land nicht frei bewegen. Sie dürfen nicht arbeiten und haben kein soziales Netzwerk, das sie in Krisensituationen auffängt. Flüchtlinge sind in der gesellschaftlichen Macht-Hierarchie auf der untersten Position.

Natürlich sagen Demagogen nicht: "Tobt euren durch uns geschürtenSelbstwert-Frust an Flüchtlingen aus, denn gegenüber Schwachen fühlt man sich am schnellsten wieder stark!" - Das wäre zwar rational korrekt, hätte aber nicht den Effekt, Emotionen zu schüren, die wiederum die Anhänger an die Demagogen binden sollen. Nein - Demagogen wollen ihre Anhänger nicht aufklären, sondern dumm und stark emotionalisiert halten. Deshalb schüren sie das Feinbild über aversive Emotionen wie Angst, Neid, Ärger bis hin zu Hass. Das tun sie mit Szenarien wie:

"Flüchtlinge sind Invasoren"

"Flüchtlinge zerstören eure Kultur / islamisieren das Abendland"

"Flüchtlinge nehmen euch euren Wohlstand weg / bekommen mehr als ihr"

"Flüchtlinge sind gesetzlos und gewalttätig"

Solche starren Negativ-Attribuierungen entsprechen ebenfalls dem dichotomen Denken. Der andere wird nicht mehr als Subjekt, d.h. als fühlender oder gar leidender Mensch, sondern nur noch wertlos und schlecht, als Objekt des eigenen Hasses erlebt. Das schafft die Grundlage für ein feindseliges Verhalten ohne Schuldgefühle. Wenn der "Feind" so gefährlich ist, darf ich ihn ungehemmt bekämpfen: Zusammenrottungen, Fremdenfeindliche Demonstrationen, Zulauf zu rechtsextremistischen Parteien wie der AfD, Blockade von Flüchtlingsbussen, Brandstiftung an Flüchtlingsheimen.

Es ist dringend notwendig, breite Bevölkerungsschichten über die psychologischen Taktiken der Demagogie bzw. Manipulation aufzuklären, damit nicht immer mehr Menschen blind den Volksverhetzern hinterherlaufen. Alle Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft sollten durch Bildung und Information mindestens zum differenzierten und kritischen Denken befähigt werden - damit sich auf dieser Grundlage Respekt und Achtung vor den anderen, auch Fremden, herausbilden kann und empathisches Mitgefühl wieder eine Chance bekommt.

(alle Zeichnungen: Brigitte Dubbick)

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